Kritik zu Die Auflösung (Aktionstheater Kassel) von Theresa Selzer


 Aktionstheater Kassel (©2017AR!ne B.)

Köpferollen in der Sargmanufaktur. Zum 40. Jubiläum des Aktionstheater Kassel inszeniert Helga Zülch das morbide Mini-Familien-Drama „Die Auflösung“ nach Ad de Bont. Um Missverständnissen vorzubeugen betont man jedoch: An eine Auflösung denkt die freie Theatergruppe noch lange nicht!

Mit einem bis ins Detail durchdachten Raumkonzept ist die Inszenierung nicht nur mobil, sondern lässt auch vielfältige und variable Perspektiven auf das Bühnengeschehen zu: Die Zuschauer können an allen Seiten des durch kleine Barrieren begrenzten Spanplattenbodens Platz nehmen und selbst entscheiden, welchen Blickwinkel sie einnehmen wollen. Für Werner Zülch als Vater und Michael Werner als Sohn gilt hingegen eine strikte Verteilung, die gleichzeitig wunderbar die Personen charakterisiert. Während die ganze Spielfläche für den Sohn frei zugänglich ist, bleibt dem Vater nur der Rückzug auf seinen über allem erhabenen Thron, auf dem er sich tatterig gerade einmal um die eigene Achse drehen kann.

So klar die räumlichen Verhältnisse scheinen, so sehr werden dafür die zeitlichen Grenzen des Stückes geöffnet. Nicht die Besucher, sondern die Schauspieler sind es nämlich, die zuerst ihre Stellungen beziehen. Der Beginn verschwimmt dadurch von einem Zeitpunkt zu einem Kontinuum vom Moment des Eintretens bis der letzte Stuhl besetzt ist. Das dennoch überraschend kurze Stück wird glücklicher Weise nur vorsichtig durch performative Pausen gedehnt. Gelungener sind die musikalischen Einwürfe und gelegentlichen Untermalungen des Kontrabassisten Berthold Mayrhofer. Seine percussiv-rhythmischen Jazz-Improvisationen boten einerseits die Möglichkeit zu einer von der Handlung losgelösten meditativen Reflexion, und orientierten sich andererseits an gewissen Schlüsselszenen. Das schwerfällige Hinabbücken des Vaters etwa begleitete er mit einem fallenden Glissando, die wachsende Unruhe des Sohnes wurde durch synkopisches Klopfen auf den Korpus betont.

Dreh- und Angelpunkt des Geschehens ist das Motiv des Todes. Obwohl er bereits unmittelbar vor Augen steht, wünscht der Sohn nichts sehnlicher als den Tod des Vaters herbei, um endlich aus dessen Schatten hervorzutreten. Treffender Weise hat das Aktionstheater Kassel den Ort der Handlung in eine Sargmanufaktur verlegt und schafft so bitterböse Pointen: Der Sohn will den Vater zum Probeliegen verführen und behauptet, noch nie sei ein weicherer Sarg gefertigt worden. Aus Zorn über die angeblich durch den Vater vereitelten Lebenspläne tritt und zerhackt er kurzerhand wahllos ganze Sellerieknollen, die erschreckende Ähnlichkeit mit menschlichen Schädelknochen aufweisen. Diese schiere Fülle an symbolisch aufgeladenen Requisiten macht nicht einmal vor dem Kontrabass Halt, der aufgrund seiner imposanten Größe ebenfalls als Sarg dienen könnte.

Durch Zufall erst gelingt es dem Sohn, den Vater ein für alle Mal unter die Erde zu bringen. Angezogen von der sinnlichen Erscheinung seiner verstorbenen Frau (mutig im Evakostüm: Kate Köhler) verlässt der alte Herr den Schutz seines Hochsitzes und wird zur leichten Beute für den rachsüchtigen Sohn. Ehe er sich’s versieht, wird er von diesem in den bereits gepolsterten Sarg gesteckt. Mit dieser erschütternden Lösung des Generationenkonflikts hat man aber noch nicht genug. Der Sohn inszeniert daraufhin mit der brachialen Wucht von „So nimm denn meine Hände“ die schaurige Persiflage eines kleinbürgerlich-katholischen Begräbnisses, zu dessen Trauermarschgästen die hinausziehenden Besucherinnen werden. 

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